Julia Vesenjak: Der ehrliche Blick auf das Ganze

Themen wie Energie und Klima sind fest im öffentlichen Diskurs verankert – führen diese aber langfristig nicht in eine monothematische Sackgasse, weil der 360-Grad-Blick fehlt? Können wir uns „weniger schädlich“ noch leisten? Ist sich die Immobilienbranche ihres gewaltigen Hebels bewusst? Welche Rolle spielen Einzelhandelsmärkte dabei? Klar ist: Die Grenzen des nachhaltigen Bauens müssen in Richtung einer neuen Kultur des Bauens aufgebrochen werden.

Der Gebäudesektor hat erneut die gemäß dem Bundesklimaschutzgesetz zulässige Jahresemissionsmenge von 113 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalenten verfehlt. Im letzten Jahr war es zwar „nur“ um 2 Prozent (115 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente statt 113 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente), doch betrachtet man die großen Fragen der Zukunft, bleiben die Herausforderungen zu Rohstoffknappheit, Bodenversiegelung und Biodiversität bestehen.

In Deutschland werden täglich rund 78 Fußballfelder (ca. 55 Hektar) als Siedlungs- und Verkehrsfläche neu ausgewiesen, obwohl der Flächenverbrauch bis 2030 auf unter 30 Hektar pro Tag fallen sollte.

Gleichzeitig wurde das sogenannte 30-bis-30-Schutzgebietsziel im Naturschutzabkommen von Montreal 2022 ausgerufen. Dieses sieht vor, dass bis 2030 ein Anteil von 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unter Schutz gestellt wird, um Bodenversiegelung zu stoppen und Biodiversität zu fördern. Dies führt zu der Frage, woher künftig noch endliche Rohstoffe und Baumaterialien wie Kupfer kommen sollen, wenn deren Abbau durch keine zusätzlichen Minen erfolgen darf.

Diese klar abgezeichneten regulatorischen Anforderungen zeigen, dass das Wirtschaften der 1980er-Jahre ausgedient hat. Für ein „Fußabdruckverkleinern“ fehlt uns heute schlichtweg die Zeit. Um unsere Lebensqualität und den damit einhergehenden Frieden und Wohlstand zu sichern, müssen wir es schaffen, ein kluges Wirtschaften mit der Chance auf Wachstum zu etablieren, das heißt, unseren „positiven Handabdruck zu vergrößern“.

Solange es also nicht gelingt, Mensch, Natur und Wirtschaft gemeinsam zu denken, werden wir die großen Probleme unserer Zeit weiter vor uns herschieben und nur noch verstärken. Die Zusammenhänge von unter anderem Klima, Biodiversität, Boden, Wasser, Ressourcenknappheit und Gesellschaft müssen gemeinsam und vernetzt gedacht werden – der alleinige Fokus auf Klima und Energie ist nicht ausreichend.

Und hierbei bietet der Supermarkt mit all seiner Themenvielfalt den idealen Nährboden, um einen ehrlichen Blick auf das Ganze zu erhalten: Bauliche und architektonisch anspruchsvolle Stadtentwicklung, Mobilitäts-, Energie-, Agrar- sowie Ernährungswende, Logistik und Lieferketten, Verpackungsmüll oder Digitalisierung sind Bereiche, die alle in einem Supermarkt aufeinanderprallen.

Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, unser bisheriges Bauen als Projektentwickler für Einzelhandelsimmobilien zu hinterfragen – mehr noch: es auf eine neue Stufe zu heben und somit eine neue Kultur des Bauens zu etablieren.

Wir müssen auch Lösungen für Artenverlust, Bodenversiegelung sowie Versickerung, Bauabfälle und Rohstoffknappheit finden und von einer linearen Wirtschaft zum Cradle-to-Cradle-Prinzip kommen. Julia Vesenjak, Nachhaltigkeitsmanagerin bei Ratisbona

3 Thesen für eine neue Kultur des Bauens im Einzelhandel

#01 „Big Money“ in Einklang mit dem Planeten bringen

Lineare Wirtschaftsmodelle wie „Kaufen – Abreißen – Bauen – Verkaufen“ werden langfristig in der Immobilienwirtschaft in dieser Form nicht mehr rentabel sein. Vor allem für Einzelhandelsmärkte, die kurze Lebenszyklen bei gleichzeitig hohem Kostendruck aufweisen, machen sich steigende Materialkosten und Rohstoffknappheit bei den häufigen Umbaubedarfen doppelt und dreifach bemerkbar. Deshalb können Supermärkte ein wunderbares Beispiel für zirkuläres Bauen liefern. Für die Cradle to Cradle (C2C)-Denkschule, die sich die Kreisläufe der Natur zum Vorbild nimmt ist deshalb der Schlüssel, Gebäude nicht als Rohstoffdeponie, sondern als Materiallager zu verstehen. Gepaart mit einem positiven Menschenbild – dem „Menschen als Teil der Lösung“ – können so neue Geschäftsmodelle (z. B. Gewinnung von seltenen Erden auch auf Müll oder Schrottplätzen) erschlossen werden. Um Bauen nach dem C2C Prinzip wirtschaftlich zu gestalten, sind digitales und serielles Bauen die Voraussetzung. Denn zukünftig werden nicht nur physische Bauten, sondern auch digitale Bauten („digitaler Zwilling“) ein positiver Werttreiber sein. Am Ende werden Investoren dies auch in ihren Kalkulationen abbilden können und die Gelder dort allokieren.

#02 Gesellschaftliche Relevanz von Supermärkten erkennen

Wo früher schmucklose Funktionalbauten von der Stange entstanden, müssen zukünftig Orte entwickelt werden, die den Platz und die Menschen der Region ernst nehmen. So können Märkte Städte verändern und Städte die Gesellschaft. Erst dann erhalten Supermärkte wieder den individuellen Marktcharakter von früher, wo gehandelt wurde, Menschen sich gern getroffen haben und gesunde Produkte verkauft wurden. Als Einkaufsmarkt sind sie ein öffentlicher Ort, zu dem alle Menschen gleichermaßen Zugang haben. Deshalb muss der Einzelhandel sich seiner immensen Rolle als Treffpunkt, an dem Aufenthalts- und Lebensqualität spürbar werden, verstehen. Orte, die uns ansprechen, werden gerne aufgesucht, erhalten Aufmerksamkeit, Pflege und Schutz. Attraktive Gebäude bleiben länger stehen und sind somit auch rentabler für alle Beteiligten

#03 Konkrete Lösungen im Einzelhandel sichtbar machen

Echte Veränderung gelingt nur mit sichtbaren Referenzen. Dabei liegt die Anziehungskraft für Städte und Gemeinden in Gebäuden, die architektonisch schön gebaut werden. Sichtbare Impulse sind unter anderem der Einsatz kreislauffähiger und gesunder Baumaterialien, klimapositives und serielles Bauen, die Minimierung des Versiegelungsgrades, Erhöhung der versickerungsfähigen Flächen, Schaffung eines größeren Anteils von begrünten Elementen (Gründach, Grüninseln etc.) sowie Steigerung der Aufenthaltsqualität in den Märkten.

von Julia Vesenjak
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